
Sind besitzen und haben Synonyme?
Wir schicken es voraus: Nein, denn so einfach ist das (wieder einmal) nicht.
Die sprachliche Ungenauigkeit, die beiden Verben synonym zu verwenden, ist im Deutschen bereits seit Langem anzutreffen.
Der Altphilologe, Historiker und beherzte Sprachpfleger Gustav Wustmann (Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen, Leipzig 1903) beklagte bereits vor rund 120 Jahren den unbedachten Einsatz des Verbs besitzen. Konsequent, gut durchdacht, streng, aber auch mit ironischen Elementen geht Wustmann vielem auf den Grund, so auch dem Unterschied zwischen besitzen und haben. Die Problematik war allerdings bereits damals keine neue. Selbst Goethe wurde von ihm als Beispiel angeführt. (Nein, es handelt sich nicht um die Buchvorlage der Komödie Fack ju Göhte!) Bereits im 18. Jahrhundert ließ der Dichterfürst wissen (Xenien, IX):
Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
hat auch Religion;
wer jene beiden nicht besitzt,
der habe Religion.
In der Poesie ließ Wustmann die falsche Verwendung zugunsten des Rhythmus oder des Reims gelten, zumal er hier zumeist einen bewussten Einsatz vermutete. Beklagenswert fand er aber die Verbreitung im allgemeinen Sprachgebrauch. Eltern würden demnach ihre Kinder besitzen – hier sollten wir stutzig werden. Wustmanns Beispiel: „Er besaß vier Kinder.“ Nein, er hatte vier Kinder!
Googelt man „er besitzt“, so finden sich rasch Beispiele, wonach der Fink einen kurzen Schwanz besitzt, dass jemand eine Fähigkeit besitzt etc. Nein, der Fink hat ebendiesen, und ebenso hat man eine Fähigkeit. Auch besitzt man keine große Erfahrung, sondern man hat diese oder verfügt über diese.
Etwas zu besitzen bedeutete ursprünglich, auf etwas zu sitzen. Hier können wir davon ausgehen, dass Grund und Boden gemeint waren. In weiterer Folge übertrug sich der Begriff auf unser Eigentum wie das Haus, das auf diesem Grund oder Boden stand. Man sitzt darin, man ist Insasse des Hauses. Auch die weitere Übertragung auf den Hausrat u. Ä. sowie auch auf das liebe Geld ist korrekt. Eine weitere sinngemäße Anwendung sieht Wustmann aber nicht.
Als medinisch-pharmazeutischer Lektor stößt man oft auf Formulierungen wie: Medikament XY besitzt die Eigenschaft XY. Selbstverständlich wird dies korrigiert. Unser Nestor und Molestor Erik hat das Team auch dafür sensibilisiert und gab damit auch den Anstoß zu diesem Beitrag.
Wir vernehmen den Einwand, dass der Duden besitzen aber auch für andere Zusammenhänge gelten lässt und als Beispiel unter anderem anführt: „Er hat die Frechheit besessen, mich anzulügen.“ Ja, allerdings auch mit dem Zusatz „in übertragener Bedeutung“. Die Duden-Redaktion schafft grundsätzlich Großes und Wertvolles, aber nicht nur Sprachpuristen beklagen eine mitunter erkennbare Bereitschaft, sich dem allgemeinen Sprachgebrauch allzu leicht zu beugen. So auch mit einer Erklärung des Unterschieds zwischen besitzen und haben (https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/Besitzen-oder-haben%3F), den es demzufolge kaum gibt – und trotzdem lautet das Resümee: „Fast immer kann haben synonym für besitzen verwendet werden, nicht aber umgekehrt.“ Explizit werden auch Eigenschaften eines Menschen als Beispiel angeführt, selbst negative, die besessen werden können. Wustmanns ruppige, konsequente „Antwort“ (wir können davon ausgehen, dass diese Diskussion unter Gelehrten bereits damals geführt wurde) darauf war 1903: „Vollends lächerlich ist es, wenn Eigenschaften oder Zustände, die einen Schaden oder Mangel bilden, als Besitztümer bezeichnet werden.“
Sind wir einfach nur pingeliger als der Duden? Nein: Wir sind akribischer. Wir betrachten die Sprache und jeden Text als einen Schatz. Diesen wollen wir nicht vergraben, sondern in eine Vitrine stellen. Am liebsten in jene unserer Kundinnen und Kunden – denn diese verdienen es, bestmögliche Sprachdienstleistungen zu erhalten.
Wustmann zu haben und besitzen; mit weiterführenden Links zu den Beiträgen aus Allerhand Sprachdummheiten. Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen, Leipzig 1903
http://kallimachos.de/zweidat/index.php/Wustmann(1903)_Haben_und_besitzen
Daniel, Stv. Cheflektor onlinelektorat.at, Leitung wissenschaftliches Lektorat